Horror Patriae

Die 57. Ausgabe des steirischen herbst steht unter dem Titel Horror Patriae – ein lateinischer Titel am Scheideweg zwischen amor patriae, der Liebe zum Vaterland, und horror vacui, der Angst vor der Leere. Warum fürchten wir uns vor der Heimat? Welche gigantische Leere steckt hinter dem gegenwärtigen Aufkommen von Nationalismen, Identitarismen und dem Kult um Wurzeln und Ursprünge? Diese werden von Regierungen in der ganzen Welt vermarktet und über das gesamte politische und intellektuelle Spektrum normalisiert, wenn nicht sogar gepriesen. Ethnisch begründete Nationalstaaten werden zum einzigen Bezugsrahmen, während die zunehmende Polarisierung der Gesellschaften durch das Prisma der „Identität“ naturalisiert wird. Man geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eine biologische Grundlage hat: Rasse und Blut. Gemischte, hybride oder verdrängte Subjektivitäten werden abgewiesen oder offen abgelehnt und als diskursive Rassenmischung oder Verrat am „Eigenen“ stigmatisiert. Überall tauchen neue Dissident:innen auf, und sie werden zum Schweigen gebracht. Dass die Linke dem gleichen selbstmörderischen Stammesdenken erlegen ist wie die Rechte, ist besonders alarmierend.

Es herrscht ein riesiges Vakuum an universalistischem Denken, während der Internationalismus zuweilen als westliche ideologische Waffe verteufelt wird. Die Logik der Viktimisierung und Vergeltung überwiegt gegenüber einer kultur- und ethnienübergreifenden Solidarität, in der Narrative geteilt werden und eine gemeinsame Geschichte auf der Grundlage von universellen Menschenrechten, Konflikttoleranz und Zusammenleben gestrickt wird.

In Anlehnung an das berühmte Buch von Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (1983), will der steirische herbst ʼ24 den konstruierten, künstlichen Charakter jeder nationalen Identität sowie die Wurzeln des Nationalismus entlarven. Er möchte „Authentizitäten“ demontieren und für fiktive Szenarien als Räume der künstlerischen Fantasie eintreten.

In diesem Superwahljahr, in dem in Österreich die Rechte wieder an die Macht kommen könnte, wendet sich der steirische herbst gegen die normalisierte leichte Fremdenfeindlichkeit, die in Form von Wurzeln und Traditionen von „großen“ und „kleinen“ Nationen und Gemeinschaften gefeiert wird. Das Festival spürt vernachlässigte und verschwiegene kosmopolitische Geschichten, kulturelle Vermischungen, seltsame Begegnungen und glückliche Hybride in der Geschichte von Graz und anderen Orten auf – und tritt gegen die Behauptung der Reinheit und für „unreinen“ Internationalismus und militanten Kosmopolitismus ein.

Zentraler Schauplatz des heurigen Festivals ist ein Museum – historisch gesehen eine Fabrik der Nationenbildung, die semifiktionale Nationalgeschichten ersinnt. Das Universalmuseum (früher Landesmuseum) Joanneum wurde 1811 von Erzherzog Johann als Bildungs- und Wissenschaftseinrichtung gegründet – Aufgaben, die seither gewachsen sind. Die Ausstellung des steirischen herbst (eine Kooperation mit der Neuen Galerie Graz) stellt Objekte aus den verschiedenen Sammlungen des Museums Werken von zeitgenössischen Künstler:innen gegenüber, zumeist neue Auftragsarbeiten. Sie entwirft ein alternatives Museum der nationalen Komplexe und dunklen Fantasien, das in unterschiedliche Abteilungen gegliedert ist. Indem die Ausstellung historische Erzählungen und zeitgenössischen Themen aufeinandertreffen lässt, erkundet sie den paradoxen Kern konstruierter Gemeinschaften und untersucht, wie große imperiale Fantasien mit der volkstümlichen Fetischisierung der kleinen Heimat koexistieren.

An den Eröffnungstagen des Festivals sind ein neues Vokalstück von Natalia Pschenitschnikova, eine Neuinterpretation der österreichisch-ungarischen Operette durch das transnationale Kollektiv La Fleur sowie Uraufführungen von Musik-Performances von Ari Benjamin Meyers und Augustin Maurs zu erleben. Außerdem präsentiert Clara Ianni jenes Werk, für das sie mit dem Werner-Fenz-Stipendium für Kunst im öffentlichen Raum ausgezeichnet wurde, während Yoshinori Niwa den öffentlichen Raum mit einer provokativen Arbeit bevölkert, die in direktem Zusammenhang mit der Nationalratswahl steht. Im weiteren Verlauf des Festivals führen Bühnenwerke und Performances von Felix Hafner, Marta Navaridas, Franz von Strolchen, Theater im Bahnhof und Thomas Verstraeten die satirische Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Lage fort. Zudem findet im Forum Stadtpark eine Ausstellung über ein weniger bekanntes „Heimat“-Projekt des Grazer Kurators Werner Fenz statt.

Begleitet werden die Ausstellungen und Performances von Horror Patriae von Artist-Talks, Streitgesprächen sowie sechs eigens in Auftrag gegebenen herbstkabarett-Shows von László Göndör, hannsjana, Bernadette Laimbauer, Annina Machaz, Piotr Urbaniec und Alex Franz Zehetbauer.

Der steirische herbst ’24 wird kuratiert von Ekaterina Degot, David Riff, Gábor Thury und Pieternel Vermoortel, unterstützt von Beatrice Forchini und Tobias Ihl, und geschaffen von allen teilnehmenden Künstler:innen, Sprecher:innen und Partnerinstitutionen sowie dem gesamten Festivalteam.