Die Fassade des Grazer Rathauses (1939/1962)

Die Architektur des Grazer Rathauses, eines der Wahrzeichen der Stadt, erfuhr mehrere, zum Teil widersprüchliche ideologische Neuinterpretationen. Das heutige Rathaus wurde in den 1890er-Jahren in einem „altdeutschen“ Stil mit Bezügen zur Nürnberger Renaissance und Ornamenten des deutschen Barock errichtet. Es löste den neoklassizistischen Bau von 1807 ab, der einheitlich, paneuropäisch und bürokratisch war. Zur Zeit der selbst auferlegten „Germanisierung“ von Graz wurde dieser als nicht national genug angesehen. Im Dritten Reich wurde die germanisierte Fassade wegen ihrer „architektonischen Zersplitterung“ stark kritisiert. Ein „ruhiger Monumentalbau“ im neoklassizistischen Stil wurde 1939 vorgeschlagen, aber nie errichtet.

Im Jahr 1962, in einer Zeit der zaghaften Modernisierung, wurde versucht, die problematische Deutschtümelei des schlossartigen Rathauses zu revidieren. Die Fassade wurde von Skulpturen befreit, um sie „sauberer“ zu machen, zudem wurde ein Wettbewerb für ihre Neugestaltung ausgeschrieben. Der Gewinner war Wilhelm Jonser (1897–1986), der wiederum eine vermeintlich neutrale Version im Stile eines internationalen Neoklassizismus vorschlug. Diese wurde jedoch bei einer Volksbefragung als zu simpel oder möglicherweise wegen zu großer Nähe zum nationalsozialistischen Entwurf, an den man sich damals noch erinnerte, abgelehnt. Seither wird das vorgebliche Deutschtum der Fassade aus den 1890er-Jahren (zu der die Statuen zurückkehrten) als hundertprozentig „steirisch“ empfunden.

Grazer Rathaus: Foto des existierenden Gebäudes und Entwurf einer neuer Fassade, 1939
Aus: Heinz Reichenfelser (Hrsg.), Kunstausstellung Graz: Architektur, Plastik, Malerei, Graphik und Handwerk (Graz: Kameradschaft steirischer Künstler, 1941)

Wilhelm Jonser
Fassadenplan für das Grazer Rathaus (1962)
Druck auf Papier, 58,4 × 97,3 cm
Stadtarchiv Graz